Kyoto (京都), von 796 bis 1865 Hauptstadt Japans und ehemaliger Wohnort der kaiserlichen Familie, gilt für die globale Gemeinschaft der Japanreisenden als der Inbegriff japanischer Kultur - und ist damit fast automatisch der Stützpfeiler eines jeden gut durchdachten Reiseprogramms. Als ein Ballungsraum von Kultur und Tradition, mit einer reichhaltigen Ansammlung an historischen Gebäuden und hunderten Tempeln (Otera) und Schreinen (Jinja), ist der Status als touristisches Zielobjekt durchaus gerechtfertigt. Auch die friedliche Schönheit japanischer Zen Gärten (deren Faszination sich Ihnen als Leser dieser Website sicherlich schon eröffnet hat) und die Existenz kulinarisch facettenreicher Straßenmärkte (wie dem Nishiki Markt) machen Kyoto attraktiv für vielseitig interessierte Reiseliebhaber.
Die logische Konsequenz dieses Kultur- und Naturreichtums ist eine Touristendichte, die eine authentische Erfahrung der Gegend durchaus erschweren kann. Insbesondere bei der Studie von landschaftlichen Besonderheiten, wird die Spirtualität beispielsweise eines Shintoschreines desöfteren „stilvoll“ ergänzt von Regenschirmen und Selfie-sticks. Und auch das leuchtend-rosane Hemd der Vorderperson kann schon einmal von der kalligraphischen Rafinesse eines jahrzehntealten Palast-interiors ablenken.
Wer sich allerdings wenige Schritte abseits der in Touristenführern ausgeschriebenen Pfade bewegt, findet sehr schnell Enklaven von landschaftlicher Schönheit, von Bambuswäldern, moosbewachsenen Schutzgöttern und frivolem Vogelgesang.
Der Besuch des Inari Schreins (Fushimi Inari Taisha), der mit den gut tausend roten „Torii Toren“ zu den Hauptbesichtigungszielen Kyotos zählt, bildet davon keine Ausnahme. Bedarf es am Fuße des Aufstieges noch einiger Akrobatik zum erfolgreichen Vermeiden von Regenschirmen, Selfie-sticks und unfreiwilligen Photobombings, verebbt der kollektive Wanderenthusiasmus recht schnell, sodass ab der zweiten Hälfte des Aufstieges die Luft nicht nur klarer und die Nebelschwaden mysteriöser, sondern die Landschaft friedlicher und urtümlicher wird. Wagt man daraufhin einen Abstieg über einen ungepflasterten Pfad, belohnt dieses Wagnis Einen mit der Zurschaustellung einer Parallelwelt. Zwischen steinernen Tierwesen führen Pfade durch eine ruhige Waldlandschaft, deren Grüntöne überraschende Ähnlichkeit mit denen eines europäischen Mischwaldes haben. Allerdings zeigt sich hier bei einem genauren Blick in die Baumkronen kein Nadelholzwald (matsu), sondern ein Bambuswald, gespickt mit japanischen Ahornbäumen (iroha momiji).
Wer so, abseits der eingetretenen Pfade, auf den Geschmack der friedlichen und vielseitigen Natur Kyotos gekommen ist, für die wird ein Besuch in der südlich von Kyoto liegenden historischen Stadt Nara (奈良), erste Hauptstadt Japans noch vor Kyoto von 710-784, eine zutiefst erfreuliche Fortsetzung dieser Erfahrung sein.
Hauptsächlich nicht nur besucht wegen ihrer Geschichtsträchtigkeit, sondern der dort angesiedelten Hirsche (shika), bildet Nara ein bekanntes Touristenziel, ist jedoch fern von den Massenbewegungen und der Großstadtatmosphäre, die es in Kyoto elegant zu ignorieren oder abenteuerlustig zu umgehen gilt. Auch hier gilt die Regel: Je weiter der Fußweg, desto authentischer die Landschaft. Läuft man von der zentralen Station Naras in gerader Linie Richtung Osten, trifft man unausweichlich auf zahlreiche geweihtragende Gesellen, die im Shintoismus als göttliche Botschafter heilig sind, ihre moderne Existenz jedoch der Jagd nach erwerbbaren Getreidecrackern gewidmet haben. Nach längerem Erwandern der Hirschregion erschließt sich ein mehr und mehr urtümliches Waldgebiet. Es finden sich in dieser Region nicht nur gut versteckte japanische Hotels (ryokan), sondern auch kleine und größere Schreine (durch die charakteristischen roten Tore (torii) leicht von den buddhistischen Tempeln zu unterscheiden). Nach dem kulturellen Sperrfeuer Kyotos ist Nara damit ein wundervoller Ort, um zwischen friedlicher Natur und sich-kunstvoll (wenn auch etwas durchschaubar) verbeugenden Hirschen die gesammelten Eindrücke zu sortieren. Es zeigt sich so einmal mehr, dass die steinigen Wege, wie so häufig im Leben, die lohnenswertesten sein können.
Text: Angelina Frank
Bilder: Angelina Frank
Andreas Langsdorff